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Mara Grunewald IW-Kurzbericht Nr. 84 6. Dezember 2017 Gruppen entscheiden unethischer als Einzelpersonen

Ökonomische Lehrbücher behandeln üblicherweise das Entscheidungsverhalten von Individuen. In der Realität entscheiden häufig Gruppen oder Unternehmen statt Einzelpersonen. Unter bestimmten Umständen verhalten sich Individuen in Einzelentscheidungen allerdings ganz anders als in der Gruppe, so dass die Wirtschaftswissenschaften die Dynamik von Gruppenentscheidungen stärker berücksichtigen sollte.

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Gruppen entscheiden unethischer als Einzelpersonen
Mara Grunewald IW-Kurzbericht Nr. 84 6. Dezember 2017

Gruppen entscheiden unethischer als Einzelpersonen

IW-Kurzbericht

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Ökonomische Lehrbücher behandeln üblicherweise das Entscheidungsverhalten von Individuen. In der Realität entscheiden häufig Gruppen oder Unternehmen statt Einzelpersonen. Unter bestimmten Umständen verhalten sich Individuen in Einzelentscheidungen allerdings ganz anders als in der Gruppe, so dass die Wirtschaftswissenschaften die Dynamik von Gruppenentscheidungen stärker berücksichtigen sollte.

Die Volkswirtschaftslehre untersucht individuelle Entscheidungen und nimmt an, dass diese rational und egoistisch sind. Das bedeutet, dass Individuen jederzeit lügen und betrügen, wenn sie dadurch einen materiellen Vorteil erreichen können. Die Verhaltensökonomie betrachtet das tatsächliche, praktische Verhalten von Menschen und findet im Gegensatz dazu heraus, dass ein Großteil der Untersuchungsteilnehmer soziale Präferenzen aufweist. Menschen sind bereit ihren Gewinn oder Lohn mit anderen zu teilen, weil sie Ungleichheit nicht mögen (Fehr/Schmidt, 1999). Außerdem handeln sie altruistisch und spenden Geld an fremde Personen und Organisationen.

Trotzdem erleben wir große Vertrauensskandale, bei denen mehrere Akteure durch Betrügen ihre Ziele erreichen wollen. Finanzkrise, Automobil- und Doping-Skandal erschüttern das Vertrauen von Verbrauchern. Der Betrug gehört zu den Vermögensdelikten und ist das am häufigsten gemeldete Delikt in Deutschland nach dem Diebstahl. Im Jahr 2016 wurden 899.043 Betrugsdelikte erfasst (Bundeskriminalamt, 2017). Welche Umstände führen zu Lügen, Betrügen und Vertrauenskrisen? Neue verhaltensökonomische Forschung legt den Fokus bei der Ursachenanalyse auf den Unterschied von Gruppen- und Individualentscheidungen in kompetitiven Umgebungen.

Unterschiede zwischen Gruppen- und Individualentscheidungen

In der Sozialpsychologie ist bekannt, dass sich Gruppen anders verhalten als Individuen. Das Konzept der „Deindividuation“ beschreibt die Veränderung der Verhaltensweise einer Person, wenn sie in einer Gruppe handelt oder als Einzelperson. Durch Anonymität und Aufteilung der Verantwortung auf mehrere Personen innerhalb der Gruppe folgt weniger maßvolles Verhalten und mehr impulsives und aggressives Verhalten (Deutsch/Gerard, 1955). Deutlich macht dies der „Zuschauereffekt“: Dieser beschreibt das Phänomen, dass im Notfall weniger Hilfeleistung gegeben wird, wenn andere Mitmenschen anwesend sind. Durch die Anwesenheit anderer ist die Anonymität größer und die Verantwortung wird auf die Mitmenschen aufgeteilt und sinkt für den einzelnen (Latané/Nida, 1981).

Ein weiterer Befund der Sozialpsychologie ist der „Diskontinuität-Effekt“: Gruppen zeigen eher kompetitives Verhalten in sozialen Dilemma Situationen als Individuen. Hierfür nennen Sozialpsychologen zwei Gründe: Zum einen die „Gier-Erklärung“, welche die Hypothese aufstellt, dass Gruppen gieriger sind als Individuen. Zum anderen wird die „Angst-Erklärung“ genannt, welche behauptet, dass Gruppen weniger Vertrauen in einander haben als Individuen. Auch verhaltensökonomische Untersuchungen untermauern die Befunde der Sozialpsychologie: Charness und Sutter (2012) zeigen, dass Gruppen sich weniger durch soziale Überlegungen beeinflussen lassen und rationaler und egoistischer handeln.

Wettbewerb verstärkt unethisches Verhalten - aber nur in Gruppen

Verhaltensökonomen vermuten, dass die obengenannten Unterschiede in Wettbewerbssituationen verstärkt werden. Wettbewerbe sind von großer Bedeutung für Marktwirtschaften und ihr Einfluss wird als wünschenswert angesehen. Wettbewerb stabilisiert die Märkte, alloziiert Ressourcen effizient und fördert Anstrengungen und Innovationen. Die aktuelle Forschung der Verhaltensökonomie untersucht den Einfluss von Wettbewerb als Ursache für Vertrauenskrisen und Betrug. Diese zeigt, dass Wettbewerb auch das Vertrauen beschädigen kann, wenn durch Wettbewerbsstrukturen Anreize für unethisches Verhalten wie Lügen, Korruption, Sabotage und Betrügen geschaffen werden. Wettbewerb kann als Begründung und Ausrede genutzt werden, warum gelogen und betrogen wird. Wenn ein Wettbewerber betrügt, kann der andere Wettstreiter auch betrügen, um wieder auf Augenhöhe agieren zu können. Während Geld-, Hab-, Profit- und Machtgier, die Hauptkanäle in nichtkooperativen Umgebungen für Betrügen und Lügen sind, kann der Wettbewerbsmechanismus zusätzlich zu unethischem Verhalten beitragen, weil ehrliche Mitbewerber entweder aus dem Markt gedrängt werden oder ihr Verhalten anpassen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten (Schleifer, 2004). Dies zeigt sich vor allem, wenn die Handlungen nicht beobachtet werden können.

Lügen und betrügen Individuen und/oder Gruppen eher, wenn sie im Wettbewerb mit Rivalen stehen oder wenn sie nicht im Wettbewerb stehen? Diese Frage steckt hinter der Hypothese, dass Wettbewerbsdruck ein wichtiger Grund für die aktuellen Skandale und Vertrauenskrisen ist. Denn im Hochleistungssport und in der Automobilindustrie ist der Wettbewerbsdruck durch viele Wettbewerbsteilnehmer und Innovationen sehr hoch.

Experimentelle Untersuchungen finden heraus, dass Individuen ihr Verhalten nicht signifikant verändern, wenn sie gegen Individuen oder Gruppen im Wettbewerb stehen. Jedoch sieht es bei Gruppen anders aus: Gruppen betrügen generell mehr als Individuen. Außerdem steigern Gruppen den Grad des Betrügens, wenn sie in einem kompetitiven Umfeld handeln – aber nur dann, wenn sie mit anderen Gruppen im Wettbewerb stehen und nicht mit Einzelpersonen (Kocher et al. 2016).

Fazit

Die Untersuchungsergebnisse von Sozialpsychologen und Verhaltensökonomen legen nahe, dass bei Einzelentscheidungen kognitive Begrenzungen, soziale Präferenzen und Verhaltensanomalien die Entscheidungsfindung verzerren. Unter bestimmten Umständen, beispielsweise, wenn Vertrauen und Kooperation zu mehr sozialem Wohlstand führen, sind Entscheidungen von Einzelpersonen sinnvoll. Denn diese sind uneigennütziger, vertrauensvoller und sozial orientierter als Gruppenentscheidungen.

In Unternehmen handeln und entscheiden jedoch häufig Gruppen. Bei Gruppenentscheidungen kommen kognitive Begrenzungen und Verhaltensanomalien weniger zum Tragen. Gruppen verhalten sich deutlich rationaler, egoistischer und mit höherer Bereitschaft zum Lügen. Um dem entgegenzuwirken gibt es in größeren Unternehmen bereits Selbstverpflichtungen zu ethischem Verhalten (Code of Conduct) als Orientierung. Dabei geht es um eine respektvolle und kooperative Zusammenarbeit und die Wahrnehmung sozialer Verantwortung. Zudem erlangen Gruppen mehr und tiefere Erkenntnisse und Wissen und sind stärker im Lösen analytischer Probleme als Einzelpersonen: In strategischen Situationen lernen Gruppen schneller, machen durchdachte und Gewinn-orientierte Entscheidungen und lassen sich weniger durch kognitive Begrenzungen und Verhaltensanomalien beeinflussen als Einzelpersonen (Charness/Sutter, 2012).

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